Die Hebamme Scharfe

              „Kommen Sie schnell Frau Scharfe, es ist soweit!“

Diesen Satz musste sich meine Großmutter zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten anhören. Sie war nämlich Landhebamme und war außer für Almrich und die Weinberge, noch für Flemmingen, Roßbach und Schulpforte zuständig. Sie musste, wie ein Landarzt, jederzeit  und bei Wind und Wetter erreichbar für ihre Patientinnen sein. Das war oft gar nicht so einfach, denn zu dieser Zeit, also etwa vor dem ersten Weltkrieg bis in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, hatten die wenigsten Leute ein Telefon und schon gar kein Auto. Sie, die ihre Hilfe anforderten, waren meistens die werdenden Väter und entsprechend aufgeregt. Sie wurden immer wörtlich befragt, wie weit die Schwangere wäre, unter anderem wie oft die Wehen kämen. Oft genug wurden sie auf später vertröstet und zogen wieder ab.
Überhaupt war die Großmutter sehr resolut und bestimmt, wenn es um die Durchsetzung ihrer Ziele ging.
Die Oma und ihre Wohnung rochen meistens nach „Sagrotan“ (Desinfektionsmittel), denn in ihrem Beruf waren Hygiene und peinliche Sauberkeit oberstes Gebot, und Ihr Koffer mit den notwendigen Utensilien stand immer griffbereit. Sie hat, nach eigener Aussage, außer mir noch etwa eintausendzweihundert
  Kindern auf die Welt geholfen. Sie ist, so denke ich, somit auch ein Stück Almricher Geschichte!


Hier ist ihr Kurzlebenslauf:

Hedwig Scharfe, geb. Löffler, geboren am 16.01.1885 in Gera.
Ihr Vater, Albert Löffler, zog wenig später mit seiner Familie per Pferdefuhrwerk von Gera
 nach Almrich in die Pfortastraße 26 und war dann Werksleiter im Almricher Wasserwerk.
Das war gerade von der Stadt Naumburg, mitsamt seinem Schornstein aus gelben Klinkern, neu gebaut worden und wurde anfangs mit einer, oder mehreren, Dampfmaschinen betrieben. Die Stelle war von der Stadt öffentlich ausgeschrieben worden. Später bekam er eine Werkswohnung im Haus neben der Mühle.
Meine Großmutter erlernte den Beruf der Hebamme und machte in Halle a.d. Saale ihr Examen.
Am 20. September 1913 heiratete sie meinen Opa, den Buchhalter Franz Scharfe.
Sie kauften später das Haus Nr. 10 in der damaligen (heute Sachsenholzstr.) Flemminger Straße und wohnten dort bis an ihr Lebensende.
Die beiden hatten zusammen zwei Söhne, nämlich Helmut, meinen Vater, und Gerhard - beide ließen im zweiten Weltkrieg ihr Leben.
Sie starb am 17. Juni 1965
.

In ihrer aktiven Zeit als Hebamme betreute sie die Frauen während der Schwangerschaft, der Geburt, als Wöchnerinnen und auch deren Säuglinge. Wenn Komplikationen zu erwarten waren, oder traten während der Geburt welche auf, wurde der Gynäkologe und Geburtshelfer Dr. Trummler, ein noch junger Arzt, der damals am Naumburger Krankenhaus tätig war, hinzu gezogen. Sie trat konsequent für das Stillen der Säuglinge ein, war also der Meinung, dass Muttermilch die beste Nahrung für Säuglinge sei. Gegen Rachitis (Knochenerweichung oder englische Krankheit), eine Mangelkrankheit die damals weit verbreitet war und heute bei uns beinahe unbekannt ist, wurde den Säuglingen und Kleinkindern tropfenweise „Vigantol“, wahrscheinlich ein Vitamin-D-Präparat, gegeben.
Zur damaligen Zeit kam der Trend auf, statt der Hausgeburten, zur Geburt in eine Klinik zu gehen. Meine Oma war darüber sehr erbost und der Meinung, dort werde nicht mit der nötigen Hygiene gearbeitet, die Frauen bekämen regelmäßig Brustentzündungen und kämen anschließend Hilfe suchend zu ihr. Aber sicher sah sie darin auch eine Erwerbsminderung!
Eine mit ihr befreundete Hebamme war ein Fräulein Bucerius, die arbeitete in Naumburg.

Meine persönliche Erinnerung an sie bezieht sich natürlich nur auf die Zeit um den zweiten Weltkrieg und danach. Deshalb habe ich meine um vierzehn Jahre ältere Großcousine gebeten in ihrer Erinnerung zu kramen und mir alles aufzuschreiben. Hier ist das Ergebnis:

Die erste Almricher Hebamme
Hedwig Scharfe, geb. Löffler,
aufgeschrieben für ihren Enkel Gert Scharfe, von ihrer 90jährigen, stark sehbehinderten, Nichte Johanna Rössle, geb. Löffler.
Meine Tante Hedwig war die erste voll ausgebildete Hebamme, auch die Erste, die mich im Leben begrüßte, denn sie stand meiner Mutter, der Frau ihres älteren Bruders, bei meiner Geburt bei.
Vorher gab es nur eine so genannte „Wehmutter“, das war die alte Frau Reumann vom Mühlplatz.
Alle paar Jahre fuhr meine Tante damals zu ihrem sehr bewunderten Professor nach Halle zur Nachbildung. Zu dieser Zeit war sie eine hübsche, noch ganz schlanke junge Frau und lernte dort Onkel Franz Scharfe (meinen späteren Paten und liebsten Onkel) kennen.
Die Beiden waren aus heutiger Sicht schon ein ganz modernes Ehepaar, was damals in den 1920er Jahren, also zur Zeit der Weimarer Republik, ganz ungewöhnlich war.
Frauen bekamen erst nach dem 1. Weltkrieg (19. Januar 1919) überhaupt das aktive und passive Wahlrecht und die wenigsten hatten eine Berufsausbildung. Sie durften noch jahrzehntelang, nur mit Erlaubnis des Ehemannes, einem Erwerb nachgehen.
Hedwig und Franz hatten vor dem ersten Weltkrieg geheiratet. Onkel Franz war an der Westfront im Schützengraben, als sein 1. Sohn Helmut geboren wurde und zwar am Tag seines eigenen Geburtstages. Der junge Vater hatte angesichts des Mordens und Sterbens im Schlamm der Gräben kaum Hoffnung, den kleinen Sohn jemals zu sehen, als ein so genannter „Heimatschuss“ ihn einseitig ertauben, aber überleben ließ. Als junge Familie wohnten sie dann mit ihren beiden kleinen Söhnen (Helmut und Gerhard) in der ersten Etage des kirchlichen Kindergartens, wo später die beiden Diakonissen wohnten. Onkel Franz verwaltete lange die Kirchenkasse. Er behielt sein Arbeitsleben lang seine Stelle als Buchhalter bei der Landmaschinenfabrik Drescher in Halle. Jeden Morgen, auch Sonnabends, fuhr er bei Nacht und Nebel, Wind und Wetter, mit dem Fahrrad zum Bahnhof und mit dem Arbeiter-Frühzug nach Halle – der Arme. Aber er fand da auch noch Zeit, für die ganze große Verwandtschaft, die wir damals waren,
  Besorgungen zu machen. So brachte er eines Tages die erste elektrische Nähmaschine unterm Arm zu uns runter, ich muss damals 8 oder 9 Jahre alt gewesen sein. Scharfens hatten auch zu der Zeit das allererste Radio – nur mit Kopfhörer. Da hatten sie schon das Dreifamilienhaus in der „Hohle“ gekauft, wo sie bis zu ihrem Ende lebten. Beide Söhne verloren sie im 2. Weltkrieg, zwei kleine Enkel blieben ihnen als Trost.
Tante Hedwig versorgte Almrich, Flemmingen, Rossbach und Schulpforte. Sie war bei den damals überwiegend Hausgeburten, gesucht und beliebt, manchmal wegen ihrer Strenge auch gefürchtet, auch selbst bei den damals noch so genannten „Herrschaften“, den Professorenfrauen in Schulpforte und manchmal auch in Bad Kösen.
Dr. Heitmann, unser Hausarzt, sagte mir mal: „Von ihrer Tante habe ich als junger Anfänger viel gelernt“. Einigen Problemkindern hat sie das Leben gerettet, und das alles per Rad!
Wer hatte damals schon ein Auto, bei über 2000 Einwohnern in Almrich sicher keine 10 bis 20?
Mit zunehmender Leibesfülle hatte sie aber wohl vom Radfahren immer schlanke Beine und hätte für ein Bavaria- oder Germaniadenkmal Modell stehen können. Dass ausgerechnet sie, die sicher die intelligenteste unter ihren Geschwistern war, im hohen Alter dement wurde, war eine Tragik. Aber sie konnte, dank Mann und ihrer jüngeren Schwester, Tante Grete Knof, bis zuletzt zu Hause bleiben. Ich spüre noch heute, in meinem eigenen hohen Alter, wie sie mich in sich hineindrückte, als die Nachricht gekommen war, dass auch der zweite Sohn nicht wiederkäme. Ich glaube, das hat ihr buchstäblich „das Herz gebrochen“.



                                                                                                                                       
Gert Scharfe, im Juni 2011


Das Hochzeitspaar  Scharfe  1913


Goldene Hochzeit  1963