Kindheit   und   Jugend   nach   1955 

Nachdem all die berührenden Berichte der Almricher Kriegskinder auf dieser Webseite auch mich erinnern lassen, kann ich doch vieles Ähnliches zu meiner Kindheit feststellen. Ich bin Jahrgang 1947 und die Rückblicke beginnen etwa Mitte der 50ger Jahre. Das Grauen des Krieges war vorbei aber die seelischen Wunden in den Menschen und die offensichtlichen Wunden der Umwelt waren längst noch nicht verheilt. Die Zeit war nicht so schnelllebig wie heute. Im Osten schon gar nicht. Und so ähneln meine Kindheitserinnerungen durchaus denen des Jahrganges 1934/35. Auch wir waren glücklich trotz Mangel auf allen Gebieten. Wir spielten noch in den Trümmern der Saalebrücke und ließen mit bescheidenen Mitteln unserer Fantasie ihren Lauf. So reichte schon ein altes Kinderwagenrad mit Stock getrieben, um sich wie ein Lockführer, Schiffskapitän oder Flugzeugpilot zu fühlen. An der Bachbrücke am Anger vergnügten wir uns mit „Fischer, wie tief ist das Wasser?“, mit Ballspielen oder Verstecken. Auf der Pfortastraße konnte man noch ziemlich ungestört kreiseln. Die Mädchen saßen vor Schwabens Haus auf der Wiese und häkelten mit der „Strickliesel“ bunte Schnüre für Topflappen oder Untersetzer, wir Jungen waren vielleicht gerade bei einem von uns und gossen Bleisoldaten in Formen, die noch jemand von seinem Großvater hatte. Das Material dazu, alte Bleirohre, hatten wir aus der Müllgrube; der „Ausschachtung“ in Alt Almrich. Die Müllgrube war überhaupt ein besonderes Reich, das viele Schätze barg.  Hier gab es kaputte Autoschläuche für Katapultgummi, Katzenaugen für den Roller, Spulen, Draht und was man noch so alles scheinbar brauchte. Die Größeren bauten daraus Detektoren, mit denen man am Telegrafenmast bei viel Glück Radio hören konnte.

Und auch zu unserer Kindheit gehörten die Russen. An der Saale, in der Nähe der großen Pappel, haben sie als Übung oft Pontonbrücken gebaut. Sie hatten dort ihr Lager. Auch wenn man vom Elternhaus nicht gerade auf Freundschaft mit den Russen geprägt war, man näherte sich ihnen doch, denn da gab es vieles Interessante für einen Jungen. Und kinderfreundlich, wie die Russen meist waren, wurden wir nett aufgenommen. Wir durften schon mal durch das Scherenfernrohr sehen und waren verblüfft, wie nahe jetzt der Napoleonstein zu sehen war. Maschinenpistolen, Bajonette, Gulaschkanone, all das war uns interessant. Die Russen waren sogar bereit, ihre kärgliche Wassersuppe, in der man die einzelnen Nudeln zählen konnte, mit uns zu teilen. Manchmal besorgten wir ihnen aus dem KONSUM ein Kastenbrot. Sie hatten ständig Hunger und wurden übel kurz gehalten. Um Schnaps zu besorgen, waren wir zu klein. Ihr Machorka in der „Prawda“ ist mir  noch gut in Erinnerung. Ebenso ihr typischer Geruch.

Almrich und Umgebung war eine Welt für sich. Nicht selten war ich bei Klassenkameraden in den Weinbergen. Aber auch auf den Platten, am Sandberg, im Pfortenholz oder in den Laasen. Im Schutze des Saaletales fühlte man sich gebogen und Almrich schien alles zu haben, was man zum Leben brauchte. Da gab es zu meiner Kindheit noch drei Bäckereien: Spotts, Ehrhardts und Illges. Am Wochenende wurden mit der Mutter die Kuchen zum Backen zu Ehrhardts im Bollerwagen geschafft. Ebenso vor Weihnachten der Stollen. Toll, wie es im Winter in der Backstube roch und die Grillen zirpten. Es gab zwei Gärtnereien: Wilhelm in der Pfortenstraße und Rosenmüller im Unterdorf. In der Gärtnerei Wilhelm war ich oft und gern. Wunderbar, die feucht-warme Luft im Gewächshaus und der Geruch nach Erde, Gurken, Tomatenpflanzen und Kräutern. Und jede Menge Kröten sorgten für natürliche Ungezieferbekämpfung! Es gab zwei Fleischereien, Schmidts auf dem Lindenberg  und Schreibers; Jakobs für Elektrobedarf; Elstes für Klempnerarbeiten; die Tischlerei Schmidt, in der wir die Leisten zum Drachenbau schnurrten; der Schmied Müller, dessen Sohn ein Klassenkamerad von mir war; ein KONSUM; allein drei Gaststätten, „Bär“, „Adler“ „Linde“ und dazu noch der „Krug“ in den Weinbergen und die „Fischhäuser“. Es gab eine Poststelle und den „ Kolonialwarenladen“, wie man noch sagte, „Görlitz“. Hier ging ich als ganz kleiner Junge gern mit zum Einkaufen. Die einzelnen Fächer mit Zucker, Mehl, Graupen, Erbsen usw. waren faszinierend. Ebenso, wie Herr Görlitz gekonnt mit einer Schaufel die richtige Menge entnahm und eintütete. Wollte die Mutter Mohnkuchen backen, musste der erst in der Mohnmühle per Hand an der großen, gusseisernen Kurbel gemahlen werden.
Bei „Klieber“ in der Milchhalle am Adler holte man lose in der Aluminiumkanne die Milch. Der Zeit entsprechend eine dünne, bläuliche Magermilch. Der größte Luxus war hier Butter, die es vom Block rationiert auf Lebensmittelkarte gab. Für fast alle Lebensmittel brauchte man diese Karten bis Mitte der 50ger Jahre, von denen jeweils Abschnitte einbehalten wurden. Es herrschte an allem Mangel. Der Volkszorn machte sich im Verborgenen mit Witzen und heimlichen Sprüchen Luft. So erinnere ich mich an einen Reim, den mein Vater von Arbeitskollegen gehört hatte: „Die SED hat festgestellt, dass Marmelade Fett enthält; drum gibt es für die nächste Dekade statt Fett nur lauter Marmelade!“ Das Leben war spartanisch. Man aß genügsam. Wenn ich ab und an mit der Mutter zum größeren Einkauf „In die Stadt“ mitging, gab es manchmal an der „Thüringer Pforte“ eine Bratwurst oder vom Bäcker einen „Florentiner“, natürlich nicht mit kandierten Nüssen und Mandeln, sondern DDR-gemäß mit Haferflocken gemacht. Schmeckte als Kind trotzdem wunderbar.
Fleisch gab es selten, wenn, dann am Wochenende oder zu Feiertagen, wo der Kaninchenbraten aus eigener Produktion stammte. Die Mütter konnten noch kochen und backen und waren im Schneidern und Stricken erfindungsreich. Die Mütter meiner Freunde, deren Männer für den Verdienst sorgten, waren meist alle zu Hause und mit der Hausarbeit voll ausgelastet. Bei guter Haushaltsführung konnten sie damit mehr Geld sparen, als sie vielleicht in einem Beruf verdient hätten.
Zum Teil sorgten die Almricher Bauern mit für die Versorgung. Gurken zum Einlegen holte man bei Fluckes, Spargel bei Sieglers. Und vieles hatte man im eigenen Garten. Zu Enaxens am Mühlplatz ging man „auf die Rolle“ um die Wäsche zu mangeln. Diese Mangel war ein Monstrum mit riesigen, steinbeschwerten Kästen, das mühevoll mit einer Kurbel über die Wäsche bewegt wurde. Es roch gut nach Leinen und Seifenpulver. Zuvor war die Wäsche am Waschtag aufwendig und mühevoll gewaschen worden. Man nannte das „Große Wäsche“, Es wurde im Waschhaus im Keller ein großer Waschkessel voll Wasser mit Ofenfeuer angeheizt. Hartnäckige Schmutzstellen auf dem „Waschbrett“ beseitigt, mühevoll gespült und ausgewrungen. Auf dem Rasen wurde die Weißwäsche in der Sonne gebleicht. Besonders weiße Wäsche war der Stolz einer Hausfrau.
Die Woche war strukturiert und hatte Riten. Ich freute mich als Kind immer besonders auf das Wochenende. Da kam der Vater schon samstags am Mittag von der Arbeit nach Hause; abends gab es Wiener Würstchen und Kakao – jedes Mal ein Fest!
Taschengeld gab es kaum. Taschengeld verdiente man sich selbst mit Linden-blütensammeln, mit Rübenverziehen, mit Kartoffellesen, mit Sammeln von Schrott oder Altpapier. Und dann konnte man sich auch mal in der großen Pause der Schule vom Bäcker Illge eine Zuckerpfeife zu 5 Pfennig oder einen Amerikaner für`n Groschen kaufen.


Kurz, unsere Kindheitseindrücke waren sehr vielseitig. Man wurde mit Natur groß. Im Sommer flogen Schwalben. Schon morgens weckte mich oft Spatzengetschilpe, denn überall gab es Körner für sie. Hatten doch die Almricher Bauern Rinder- und Pferdefuhrwerke, mit denen  Heu oder Getreide durch den Ort gefahren wurde. Man kannte Stichlinge in der Saale, Kaulquappen im Bach; und wenn die kleine Saale über die Ufer floss, waren die Wiesen hinter Lorenzenz überschwemmt und die größeren Jungen machten mit Speeren und Spießen Jagd auf Hechte. – Die Sinne für alle möglichen Gerüche wurden ständig geweckt. An der Saale roch es nach Saale, am Bahndamm nach Bahndamm, im Unterdorf nach Unterdorf. Und viele dieser Düfte haben sich bis heute erhalten. Als ich im Sommer 2008 vom Bahnhof  am Bahndamm nach Almrich lief, roch es teilweise jetzt noch wie damals, obwohl schon lange keine Dampfloks mehr über die Gleise rollen.

Meinen ersten Kinofilm habe ich noch im „Adler“ gesehen. Kindervorstellung eines wunderschönen, russischen Trickfilmes: „Die goldene Antilope“. Später war jeden Donnerstag nachmittags in der „Linde“ für 25 Pfennig Kinderkino. Ich kann mich an das russische Heldenepos „Ilja Murometz“ und an den DEFA-Klassiker „Der kleine Muck“ erinnern. – Gegen Ende der 50ger Jahre spielte die deutsche Teilung auch für uns Kinder eine immer bedeutendere Rolle. Viele „hauten ab“, flüchteten mit gutem Grund nach den Westen. Allein aus meiner Klasse fehlten schon bald zwei Mädchen und ein guter Freund. Der Westen war jetzt für uns immer wichtiger und wurde zu unserer Sehnsucht. Wenn man von lieben Freunden oder Verwandten ab und an ein Paket von „drüben“ bekam, kam Sonne in den grauen Ostzonenalltag. Es roch schon nach Apfelsinen oder guter Seife, wenn man nur das Papier vom Karton löste. Durfte man sich  zu gegebenem Anlass etwas aus dem Westen wünschen, war es später meist ganz unbescheiden eine Jeans. Aber bitte eine echte „LEVIS“, denn sie war uns ein wichtiges Statussymbol für Freiheit und westlichen Lebensstil. Und dazu möglichst noch eine „Kutte“, ein original US-Parka.
Einige wenige Familien hatten auch in Almrich schon Anfang der 60ger Jahre bald einen Fernsehapparat und wenn man so einen begüterten Freund hatte und den Eltern vertrauenswürdig erschien, konnte man schon mal „Fury“, Lassie“ oder „Am Fuße der blauen Berge“ sehen. Etwas älter, ich ging bereits mit Freunden nach Naumburg in den „Schwan“ oder in die „Reichskrone“ ins Kino, wollten wir nur noch Westfilme sehen. Ich erinnere mich an „Liebe, Tanz und tausend Schlager“ mit Catarina Valente und Peter Alexander. Eine Welt, die großartig erschien. Und viele tolle, französische Krimis sind in Erinnerung geblieben. – Im Pubertätsalter waren wir auch „literarisch“ nach Westen orientiert. Es gab ein sicheres Netzwerk von uns gleich gesinnten Almrichern (meist älter als ich) und hinzugekommenen Naumburgern, die mit Fleiß „Westhefte“ tauschten. Man hatte sonst wenig miteinander zu tun, aber das Interesse und die Beziehungen zu „Schmökern“ schufen Verbindung.   Oft hatte man nur eine Nacht Zeit zum Durchlesen. „Tom Prox“, „Billy Jenkins“, „Jerry Cotton“ oder „Kommissar X“; alles das verschlangen wir mit Begeisterung. Ich bin überzeugt, es hat uns nicht geschadet. Waren doch diese „Heftchen“ die Einstiegs-  droge zum späteren Bücherlesen. Von der „Schundliteratur“ zu Stefan Zweig, Hermann Hesse und Thomas Mann; kurz zur „Weltliteratur“. (Als ich viel später einmal im Radio hörte, dass Konrad Adenauer zur Entspannung jeden „Jerry Cotton“ gelesen hat, wusste ich, dass ich schon immer auf dem richtigen Weg war
J).

Musikalisch war nur die Musik aus dem Westen uns gleich gesinnten Almricher und Naumburger Freunden von Interesse. Anfangs Elvis, Paul Anka und all die Größen der 50ger Jahre, später die Beatles, Rolling Stones usw. Im Fernsehen sahen wir „Beat Club“, im Radio hörten wir, häufig gestört, RIAS: „Schlager der Woche“ oder die Hitparade von Radio Luxemburg. Das zuckende, grüne „magische Auge“ des Radioempfängers ist mir noch deutlich in Erinnerung. Wer Westplatten hatte, ging zu dem, der einen Spieler hatte und man begeisterte sich in der Gruppe.

Etwas älter, in den 60ger Jahren, war uns Freunden die Heimat zu eng geworden. Jetzt stand in den Ferien, bzw. im Urlaub (wir waren schon in der Lehre) das „Trampen“ (per Anhalter oder Auto-Stop) für unseren jugendlichen Freiheitsdrang. Zunächst trampten wir zwei Almricher und ein Naumburger Freund bis zur Ostsee, später bis Budapest und schließlich bis an den Rand der uns erlaubten Welt; bis Primorsko an der türkischen Grenze in Bulgarien. Ich weiß noch, wie uns an der Autobahnauffahrt Osterfeld ein LKW ein Stück mitgenommen hatte. Der Fahrer fragte uns: „wohin soll´s denn noch gehen?“ Als wir sagten, nach Bulgarien, hat er uns für verrückt erklärt. In Almrich und Naumburg staunte man später nicht schlecht über all unsere spannenden Reisegeschichten. Wir waren wohl die einzigen aus Naumburg und Umgebung, die so unternehmungslustig waren. Überhaupt gab es nicht viele Jungen von unserer Sorte.

                 

Unsere ersten Erfahrungen mit Mädels machten wir auf Feten, Partys und auf unseren Tramptouren.

1969 habe ich Almrich endgültig verlassen. Auch die alten, festen Freunde aus Almrich und Naumburg wohnen längst nicht mehr dort. Aber in Verbindung stehen wir alle heute noch.
Wenn ich über meine Kindheit und Jugend nachdenke, kann ich im Nachhinein sagen, dass ich die Erfahrungen einer Mangelwirtschaft nicht missen möchte. Machte sie uns doch oft sehr erfinderisch, zwang uns zur Genügsamkeit und lässt uns heute eher dankbar sein, wenn es uns gut geht. Auf viele negative Erfahrungen mit einem verlogenen Unrechtsstaat, der seine Bürger nur eingesperrt halten konnte, hätte ich allerdings gern verzichtet.  Dennoch war es eine schöne, interessante und vor allem spannende Jugendzeit, die ich in Almrich und darüber hinaus hatte. Gern erinnere ich mich an die Heimat zurück.

 
  K
laus Staps, seit 1984 in München       zur Homepage