Heinz Reumann                                                                                                                            Dezember  2009

Für meine Enkel Sebastian und Fabian


Eine Flucht aus Frust und Trotz !  Die Flucht  Eurer Großeltern.



Wir waren 20 Jahre alt und hatten Sehnsucht nach der Ferne, nach etwas Neuen, etwas Unbekannten, einfach, Fernweh!
Die ewigen, sich immer wiederholenden politischen Parolen, einer Gehirnwäsche gleichenden  Schul- und Lehrzeit,  ging uns auf die Nerven. " Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen  lernen" oder "Der Sozialismus siegt" . Wir sagten dazu immer:" Ja, ja  er siecht dahin".  Die Thesen des Marxismus -Leninismus, wurden uns von den Parteinatschalnicks schon vor Beginn der Arbeit, beim morgendlichen " Roten Treff" gebetsmühlenhaft vorgestammelt. Dabei dösten alle gelangweilt vor sich hin. Diese Leute waren so dumm, dass sie Ihre eigenen Sprüche nicht erklären konnten. Kurz vor der Wende habe ich unseren Betriebsparteisekretär vor versammelter Mannschaft gesagt:" Du bist zu dumm, einen Eimer Wasser umzukippen " Der Blödian hat mich nur stumm angeschaut. Er hat auch das nicht begriffen.

Die persönlich hautnah erlebten Ereignisse des 17. Juni 1953 wirkten auch noch nach. Der alljährliche Westbesuch der Verwandtschaft und die wiederholten Einladungen zu einem Gegenbesuch verstärkte dieses Verlangen und wir beantragten einen Reisepass nach Westdeutschland. 1955 war die Grenze noch offen. Naiv und ohne Hintergedanken gingen wir, d.h. meine spätere Frau und ich zur Polizeimeldestelle und beantragten so einen Reisepass.

Kurz und bündig kam die Antwort:" Sie, Frl. Enax, dürfen fahren, Sie Herr Reumann wollen abhauen. Sie bekommen keinen Pass".!  Das war es, mit unserem gemeinsamen Besuch bei unseren Verwandten, im Jahr 1955

In mir stieg die Galle hoch! Ein Freund des Staates war ich nie. Ich habe es sogar geschafft, meine Jugendzeit ohne blaues FDJ -Hemd, in der DDR zu überstehen. So reifte in mir der Entschluß, diesen Staat mit meiner späteren Frau, zu verlassen. Zu Ihr sagte ich: " Du fährst mit Pass und wartest bis ich komme. In 4-5 Tagen bin ich bei Dir." Wie soll das gehen, fragte Sie mich ungläubig? Verlass Dich auf mich, ich kriege das hin. Als der Pass vorlag, fuhr meine Freundin nach Herford. An einem Freitag verabschiedete ich mich von meinem Brigadier mit den Worten:" Macht`s gut, ich komme Montag nicht wieder, ich haue ab." Verblüfft war ich von seiner Reaktion als er sagte:" Da können wir ja zusammen fahren, wir wollen auch weg". Wir, das waren Hermann Bock, Hermann Weinreich und Kurt Jacobi. Sie wollten aber nicht ständig bleiben, sondern nur eine Weile arbeiten, das Geld  günstig umtauschen und wieder zurückkehren, denn alle hatten Familie. Das war eine Praxis, die Viele ausführten. So verschafften sich Viele, Westgeld für rare Industriewaren, die man nur im Intershop kaufen konnte. Nun vereinbarten wir die gemeinsame " Ausreise" nach meinem feststehenden Plan. Am Montag lösten wir eine Arbeiterrückfahrkarte nach Fürstenberg / Oder, über Berlin. Dort hatte unsere Firma eine Baustelle. Den Arbeiterrückfahrkartenantrag hatten wir mit einem Firmenstempel der Baustelle versehen. So sah alles echt aus. Zusätzlich hatten wir noch unsere Betriebsausweise, die mit dem Vermerk, "Gültig für alle Baustellen der DDR" bei uns. Bis Jüterbog ging alles glatt. Dort stiegen Transportpolizei zu und kontrollierten Fahrkarten und Ausweise. Einige junge Leute mussten aussteigen. Nach Befragung woher und wohin und Vorlage unserer Betriebsausweise durften wir weiterfahren. In Berlin Ostbahnhof stiegen wir  in die S-Bahn und fuhren über Friedrichstraße nach Westberlin. Wir hatten es geschafft!  Irgendwo stiegen wir aus und erkundigten uns nach dem nächsten Aufnahmelager. Auf einem Straßenbahndepot gab man uns einige Freikarten und wies uns den Weg nach Marienfelde. Dort erlebten wir eine böse Überraschung. Das Lager war überfüllt und man prophezeite uns einen Aufenthalt von mindestens 4 Wochen. Das war für Alle, verlorene Zeit. Ich wollte so schnell wie möglich nach Herford und meine Kollegen wollten so schnell wie möglich Geld verdienen. Also ab nach dem Flughafen Tempelhof und Flugzeiten und Preise erfragen. Jetzt tauschten wir alles Ostgeld und kauften Flugtickets. Ich hatte genug Geld, aber nicht meine Kollegen. Ein Flug kostete 64,00 Westmark.  Der Wechselkurs lag damals bei 1: 5 . Ich legte den Rest dazu und wir flogen 15 Uhr 15 nach Hannover. Es war ein merkwürdiges Gefühl als wir über DDR Gebiet flogen. In Hannover trennten sich unsere Wege, nachdem wir in der Bahnhofsmission um Rat und
Hilfe ersucht hatten. Noch mal legten wir das letzte Geld zusammen . Als ich meine Fahrkarte nach Herford gekauft hatte, gab ich  bis auf 6,00 DM  alles Geld, es waren noch mal 12,00 DM, meinen Kollegen, damit Sie nach Dortmund, Ihren Ziel, fahren konnten.

Im Herforder Bahnhof angekommen, fuhr ich mit der Taxe in Richtung Werretal, immer den Blick auf das Taxemeter. Bei 5,80 DM sagte ich halt, mein Geld ist alle! Kurioserweise stand ich genau vor meiner Zieladresse. Die letzten 20 Pfennige gab ich als Trinkgeld. Blank bis auf den letzte Pfennig, war ich angekommen. Ein neuer Lebensabschnitt begann!

Die Bewohner des Hauses nahmen mich freundlich auf, nachdem ich mich vorgestellt hatte. Meine Freundin war mit der Verwandtschaft im Kino, denn Sie hatten ja nicht mit mir gerechnet. Montags war das Kino nie voll und die Kassiererin, eine gute Bekannte, ließ unsere Verwandtschaft ohne Bezahlung rein. Als Gegenleistung zahlten Diese mit einem Beutel voll Deputatbier des Onkels, der in der Herforder Brauerei beschäftigt war und kein Biertrinker war.

Diese Familie lebte mit 3 Kindern in einer sehr kleinen kalten Dachwohnung, nachdem Sie 1946 mit dem Kinderwagen zu Fuß, von Almrich nach Herford geflüchtet waren. Ein Bleiben für mich, war unmöglich. Am nächsten Tag ging ich auf  Wohnungs- und Arbeitssuche und bekam sofort die kapitalistischen Regeln des gelobten Landes zu spüren. Die da lauteten: "Hast du eine Wohnung, bekommst du Arbeit, und umgekehrt. Hast Du Arbeit, bekommst Du eine Wohnung." Ich hatte keines von Beiden. Also musste ich mir eines von beiden besorgen. Ich bat die Verwandtschaft, mich auf Ihre Adresse vorübergehend anmelden zu dürfen. Mit diesen festen Wohnsitz bekam ich auch Arbeit bei
einer in Herford tätigen Montagefirma, bei der ich als Arbeiter "auf Zeit" eingestellt wurde. Damals schon eine übliche Praxis. Mit viel Skepsis begegneten mir die Stammarbeiter, alles sture Westfalen aus Bochum. Erst nach 4 Wochen hatte ich mir durch Fleiß und Können Anerkennung verschafft und wurde an kleinen "Nebengeschäften" nach Feierabend beteiligt. Wir verkauften nach Feierabend den anfallenden Schrott beim Schrotthändler und hatten ein kleines Zubrot, was sich lohnte. Auch ein kleines Zimmer unter dem Dach mit einem Bett, einem Schrank sowie Tisch und Stuhl konnte ich mieten. Fürs erste reichte es. Auf meinem täglichen Arbeitsweg ging ich an einem Motorradgeschäft vorbei. Da standen Sie, die NSU -Max, die Fox und die Lux in blitzenden Farben und Chrom, unerreichbar, aber die  Begehrlichkeiten wurden geweckt. Ich nahm das Angebot der Firma an, mich als Stammarbeiter einzustellen, wenn ich mit dem Bauleiter nach Flensburg, einer neuen Baustelle ging, um dort zu arbeiten. Mit einen guten Lohn, Auslösung, Wegegeld und Erschwerniszulage erhoffte ich mir einen schnellen persönlichen Aufstieg aus meiner miserablen finanzieller Lage. Der Bauleiter und ich, als junger Spund zum Kolonnenführer gekürt, sollten mit Hilfsarbeitern, die wir
vor Ort vom Arbeitsamt zugeteilt bekamen, ein altes Gaswerk demontieren. Mit einem Gittermast als Hebezeug,  Autokrane gab es damals noch nicht, schweißten wir die Dachkonstruktion ab, und verschrotteten das Werk. In luftiger Höhe hatte ich einen herrlichen Blick auf die Flensburger Förde. Ich sah die ein- und auslaufenden Schiffe im Hafen und das Abenteuerfiber packte mich. Erkundigungen ergaben, dass ich mit meiner Ausbildung, als Maschinenassistent zur See anzuheuern, geeignet war. Aber nun türmten sich die politischen Hürden auf. Ich war trotz Personalausweis noch kein richtiger Bundesbürger weil ich nicht durch das Lager der alliierten Besatzungsmächte gegangen war!! Also fuhr ich nach Uelzen, in die Lüneburger Heide, ins Auffanglager. Am Tor sagte man mir, dass die Prozedur mindestens 14 Tage dauern würde. Das kannte ich schon von Berlin . Hier kam mir erstmals mein Dialekt zu Hilfe.  Ein Angestellter, gebürtiger Hallenser, fragte mich, ob ich aus Sachsen käme, und half mir mit einem Zettel, den er an meine Akte heftete  und ich an jeder Warteschlange vorzeigen sollte. Nach der obligatorischen Entlausungsspritze, einem weißen Pulver, was man in den Kragen gespritzt bekam, Deckenempfang, Bettenzuteilung, schaffte ich es innerhalb 2 Tagen,  das Prozedere einer Dippeldappeltour der Bürokratie, zu absolvieren. Die Verhöre der Geheimdienste der Franzosen,  Amerikaner und Engländer überstand ich, ohne dass Sie Interesse an mir fanden. Ich bekam den Vermerk "Deutscher Bundesbürger" und durfte damit zur See fahren.

Am 30.01.1956 musterte ich auf der M.S. Lauting, einen kleinen Küstenmotorschiff in Kiel Holtenau als Maschinenassistent an. Meine künftige Frau Helga, war sehr traurig, aber ich schickte Ihr regelmäßig einen Teil meiner Heuer, als Grundstock für unsere gemeinsame Zukunft. In einem Jahr liefen wir alle Anliegerstaaten der Nord und Ostsee an. In Stettin, dem ersten ausländischen Hafen, verkaufte ich alle DDR -Kleidung für die Sloty -Währung. Auch Kugelschreiber, Damenstrümpfe, alles was aus Nylon war, wurde uns förmlich aus den Händen gerissen. Die Polen und die Russen waren damals noch ärmer als die DDR -Bürger. Das Geld verjubelten Wir in 3 Tagen in zweifelhaften Hafenkneipen. Auf hoher See tauschte der Koch zollfreien Schnaps und Zigaretten bei skandinavischen Fischern gegen Frischfisch. Das funktionierte so: der Fischkutter kam längsseits. Wir ließen einen Korb mit Schnaps und Zigaretten runter und zogen am Seil den Korb mit Frischfisch hoch. Auch bei uns anderen Besatzungsmitgliedern war der Schmuggel mit Zigaretten und Alkohol Gang und Gebe. Besonders in den skandinavischen Ländern war wegen dem dortigen Alkoholsperren das Geschäft lukrativ. Eine Flasche französischer Cognac  z. B. "La Coron" kostete auf dem Schiff zollfrei 1,35 DM. Verkauft wurde er in Schweden für 30 Kronen. 1Krone damals 0.80 DM. Schöner Gewinn!! Ein Landgang war also recht billig. Der Götakanal mit seinen vielen Schleusen bis zum Vänersee, waren ein besonderes High Light. Auch Oslo, der Fjord und die Königsallee, mit Blick zum Holmenkollen, sind mir noch gut in Erinnerung. Oder Amsterdam, mit seinen historischen Krachten, Kopenhagen mit der Meerjungfrau und den vielen Tatooläden an der Uferpromenade, Rotterdam,  Antwerpen und Dortrecht. Alles Häfen, die wir innerhalb von 3 Tagen anliefen. Eine Fahrt nach Hamburg bleibt mir in ewiger Erinnerung. Bei schwerer See liefen wir Hamburg an und warteten bei Elbe 1 auf den Lotsen, aber kein Lotse holte uns rein. 12 Stunden warteten wir bei Orkanböen und unsere schwache Maschine stampfte gegen die See an, um nicht abzutrifften. Da hatte ich erstmals Schiß und bekam Achtung vor den Naturgewalten. Das zweite Mal ging mir die Muffe, als wir bei Eisgang und Ballastfahrt von Nordnorwegen  nach Oslo wollten. Die dicken Eisschollen schlugen gegen das Schiff, als wenn draußen 5 Mann mit Vorschlaghämmern gegen die Bordwand schlugen. An Schlaf, meine Koje befand sich im Vorschiff, war nicht zu denken. Mit deformierter Schiffsschraube, kamen wir in Oslo an und hatten einen längeren Aufenthalt, da wir ins Dock mussten .Für die Mannschaft eine willkommene Gelegenheit, Oslo kennen zulernen. Mit meinem Chief, als mein Wachoffizier hatte ich es gut getroffen. Bei jeder Sehenswürdigkeit an Deck, kam er in den Maschinenraum und übernahm die Maschine. "Komm hoch ,mien Jung, schau Dich um " sagte er. Dieses Wohlwollen, hatte ich mir durch einen maschinentechnischen Tip, während einer Reparatur der Hauptmaschine auf hoher See, verdient.

Die Briefe meiner Freundin waren sehr traurig und ich lud Sie  ein, die Nord- Ostseekanaldurchfahrt mitzumachen. Dabei beschlossen wir, uns zu verloben und das sollte Zuhause in der DDR sein. Während einer Umbauphase des Schiffes, machte ich Urlaub und wir fuhren nach Hause. Angst hatten wir keine, oder wir waren zu naiv darüber nachzudenken.

Eine Woche nach der Verlobung verunglückte mein Schwiegervater bei einem Verkehrsunfall tödlich. Ein harter Schicksalsschlag, der weit reichende Konsequenzen hatte. Meine Verlobte wollte Ihre Mutter, Ihre kleine Schwester und die Oma nicht im Stich lassen. Sie wollte Ihnen eine Stütze sein. Eine Prüfung für uns Beide! Wir bestanden Sie. Wir blieben beide in der DDR mit allen seinen Mangelerscheinungen und politischen Quereelen. Denn so rosig war es damals, im goldenen Westen, auch noch nicht. Bewußt  waren uns die Folgen nicht so richtig. Dazu war unser politisches Denken nicht in der Lage. Das kam erst später. Eine kleine Rückversicherung hatte ich mir, mißtrauisch wie ich zum System stand, bewahrt. Mein Seefahrtsbuch, ein international, anerkanntes Personaldokument hatte ich nicht abgegeben. Damit hätte ich zu jeder Zeit in Rostock auf ein westdeutsches Schiff gehen können und der DDR, aber auch meiner Frau  A-de, sagen können. Siehe das " Gesetz, betreffend die Verpflichtung der Kauffahrteischiffe zur Mitnahme heimzuschaffender Seeleute", im Anhang jedes Seefahrtsbuches nachzulesen. Das hatte ich aber nur für politische Notfälle bedacht.

Das Schicksal wollte es anders. Ich fing wieder bei meiner alten Firma an, in meiner alten Brigade. Die anderen 3 "Flüchtlinge" waren inzwischen auch wieder brave DDR-Bürger und das Leben ging wieder seinen gewohnten "sozialistischen Gang" !.     Eine kleine Episode am Rande, über die ich heute noch grinsen muß, erlebte ich, als ich mich auf dem Polizeirevier wieder anmeldete und die Frage beantworten musste: " Waren Sie im kapitalistischen Ausland, Wenn Ja, Wo?, habe ich wahrheitsgemäß alle Nord - und Ostseeländer aufgeführt die wir angelaufen waren. Von Frankreich, England, Schottland, über Belgien und Holland bis zu den Skandinavischen Ländern und Russland und Polen als letzte Länder, obwohl die nicht zu den kapitalistischen Ländern zählten. Ungläubig steckten die Beamten die Köpfe zusammen und übergaben die Akte einem Herrn aus dem Hinterzimmer. Dem musste ich nun alles erklären. Man war misstrauisch geworden und man ließ es mir jedes Jahr spüren. Freundlich gesinnte Nachbarn berichteten mir regelmäßig, über Besuche und Erkundigungen über unseren Lebenslauf und Lebensstil , " Horch und Guck war überall dabei"

Ein Ingenieurstudium an der Betriebsakademie, wurde mir auf Grund "mangelnder gesellschaftspolitischer Beteiligung " jahrelang verwehrt. Erst als man im westsibirischen Erdölgebiet Fachleute der zerstörungsfreien Werkstoffprüfung brauchte, durfte ich wenigstens die Meisterschule absolvieren .Das war, neben meiner jahrelanger Erfahrung, die Bedingung der Russen. Sonst hätte ich nie die Meisterschule absolvieren dürfen.

Heute lebe ich als allein stehender Rentner recht zufrieden im vereinigten Deutschland und  bin nicht mit meinem Schiff am 16.2.1969 in der Nordsee untergegangen. Ich  bin stolz, im Oktober / November 89 auf den Straßen von Leipzig dabei gewesen zu sein.   Das Schicksal hat es so gewollt!!!

PS. Nur auf Bitten meines Enkels Sebastian veröffentliche ich diese Geschichte.


                                                                                                                                                       Heinz  Reumann