Waltraud, Lack
geb. Löffler
1933
Dorothea, Zühlke
geb. Löffler
1937
01.10.2009
Flucht, Wegzug aus Almrich
Nach wenigen Wochen zogen die Amerikaner wieder ab und die Russen zogen ein. Wie
erbärmlich, teils mit kleinen Wagen mit kleinen Pferden davor, sang und klanglos
aber mit sichtbar betrunkener Besatzung. Nun begann eine schlimme Zeit, Raub,
Überfall, Vergewaltigungen. Aus den Weinbergen hörte man die Hilfeschreie.
Unser Vater kam schon in den ersten Wochen, als die Amerikaner noch da waren,
aus Russland zurück. Er war Feldgrauer Eisenbahner und immer bei der Lokomotive
stationiert, so kam er mit der letzten raus. Er wollte wieder als Beamter im
Lohnbüro der Eisenbahn am Naumburger Bahnhof arbeiten. Da er Beamter war und als
solcher in der Partei sein musste, nahm man ihn nicht. Er musste Lokomotiven
putzen, zur Strafe. Ein guter Freund verriet ihm, dass er als Begleitperson mit
einem Zug nach Russland sollte, da wäre er vielleicht nie wieder gekommen. Er
besprach mit seiner Frau und seinen Eltern seine geplante Flucht. Meine
Kinderohren hörten heimlich alles mit aber ich war es gewohnt zu schweigen.
Am nächsten Tag bestieg er in seiner Eisenbahneruniform und einer kleinen
Aktentasche mit etwas Brot und einem Taschentuch ein Bremserhäuschen und fuhr
gen Westen. Nach Stunden schaute er aus dem Bremserhäuschen heraus und ein
Eisenbahner sagte: „Kollege du bist im Westen“. Auf Umwegen erfuhren wir dass
alles gut gegangen war. Meine Mutter hatte den verständlichen Gedanken, die
Familie wieder zusammen zu bringen. Bis Oktober 1946 blieben wir noch in
Almrich. Dann hörten wir, dass ein Lastwagen nach dem Westen ging, natürlich
schwarz, es war nicht erlaubt die Zone zu verlassen.
Meine Mutter beriet sich mit Eltern und Schwiegereltern, geh und nimm die Kinder
mit, geh und lass die Kinder hier. Sie holte den Kinderwagen, in dem wir 3 schon
gelegen hatten, das letzte Kind vor 8 Jahren, aus der Bodenkammer. Ich bekam den
Auftrag für jedes Kind 3Hemdchen, 3 Höschen, 3 Laibchen, 3 Paar Strümpfe, den
Trainingsanzug in den Wagen zu packen, kein Spielzeug. Meine Schwester weinte,
sie wollte ihren Teddy Schnurzel mitnehmen. Meine Mutter erlaubte es, da wollte
ich auch meine Puppe Gretchen mitnehmen. Damit sie es nicht merkte, legte ich
Gretchen unter den Nähkasten. Im Krieg hatte das Handarbeitsgeschäft Wenzel aus
Naumburg Wolle ausgelagert, was klug war denn das Geschäft wurde durch Bomben
zerstört. Meine Mutter brachte die rosa, hellblaue und weiße Angorawolle zur
Tante Peter, die hatte für Wenzels gestickt, und die brachte sie der Frau Wenzel
zurück. Wer ist heute noch so ehrlich? Abends holten uns die Großeltern Löffler
in die Pfortastrße 10 ab. Der Kinderwagen wurde aus dem 2. Stock heruntergeholt
und auf den großen Handwagen geladen. Die Diakonissen waren zum Glück nicht im
Haus, wir wohnten im Kindergarten, es durfte ja keiner wissen. Wir schliefen bei
den Großeltern und in der Nacht nähte aus einem Fenstervorhang die Großmutter
noch neue Ärmel an unsere Wintermäntel. In aller Frühe, es war Mitte Oktober
noch dunkel, lud der Großvater wieder den Kinderwagen auf den Handwagen und
schweigend ging es in Richtung Naumburg zur Spedition Ölsen. Andere Leute hatten
den Lastwagen bestellt, wir waren nur Beipack. Meine Mutter wollte bezahlen, er
wollte kein Geld, da gab sie ihm einen Autoschlauch, den hatte Emil, ein
Flüchtlingsjunge, den Amerikaner, die unter der Brücke lagerten gestohlne. Der
war ihm mehr Wert als alles Geld. Das Auto fuhr mit Holzgas, meine Schwester saß
in der Nähe dieses Ofens und hatte es in der schon kalten Nacht warm. Unterwegs
hatten wir ein menschliches Bedürfnis, das wurde über die Seitenwand erledigt.
Es wurde hell, wir fuhren durch das Sperrgebiet irgendwann tat sich ein Hoftor
auf, das Auto fuhr rein und das Tor sofort wieder zu. Wir Kinder mussten uns im
Stroh, in der Scheune verstecken. Als bei den Russen an der Grenze Wachwechsel
war, mussten wir loslaufen. Am Waldrand lang, wenig verdeckt von Büschen. Der
Weg war von Rinnsalen durchzogen. Meine Mutter bekam ihr Asthma da musste ich
den Kinderwagen schieben, obendrauf saß meine jüngere Schwester. Für alle Fälle
hatte meine Mutter eine Flasche Kartoffelschnaps dabei, aber die Russen haben
uns übersehen. Nach einiger Zeit kamen wir an eine Straße und ein Bauer auf der
Wiese, sagte uns: „Sie sind in Osterwiek – Schladen Westen“. Ich merkte noch wie
ich in den Straßengraben kullerte, dann schwanden mir die Sinne, ich hatte mich
total überanstrengt. Es kam ein Lastwagen, der Fahren frug uns wo wir
hinwollten, meine Mutter wollte zum nächsten Bahnhof, dass muss Marienborn
gewesen sein. Er wollte uns mitnehmen aber der Beifahrer weigerte sich weil das
im Sperrgebiet verboten war. Der Fahrer lud unseren Kinderwagen und uns ins Auto
unter die Plane und ab ging es zum Bahnhof. Meine Mutter konnte eine Fahrkarte
lösen und irgendwann kam ein Zug. Es wurde Nacht, irgendwo ging es nicht mehr
weiter, wir mussten aussteigen, gingen zum Roten Kreuz, bekamen heiße Milch, die
war angebrannt aber das war uns egal. Dann kam wieder ein Zug, ein Güterzug, der
war schon voll aber ein Eisenbahner schob den Kinderwagen und uns noch hinein.
Wir fuhren und irgendwann fehlte mein Bruder. Meine Mutter war die einzige die
eine Taschenlampe hatte und fand Karl auf einen Kartoffelsack schlafend. Das war
ein sogenannter Hamsterzug. Dann wurde es wieder hell. Ein Gegenzug fuhr an uns
vorbei und meine Mutter sagte: „ Da sitzt Vati drin“. Wir kamen in Holzwickede
in Westfalen an, fragten nach dem Bauzug, dort wohnte mein Vater in einem
Eisenbahnwaggon zusammen mit einem Kollegen. Das Erste was wir zur Antwort
bekamen war ` Bauzug, Klauzug, ein Schock. Dort erfuhr meine Mutter, dass in dem
Gegenzug wirklich mein Vater gesessen hatte, Richtung Paderborn. Er kam mit dem
nächsten Zug zurück und muss wohl auch geschockt gewesen sein bei aller Freude,
uns wiederzusehen. Wohin sollte er mit uns? Also wohnten wir 3 Wochen im Waggon,
bis ich die Laus entdeckte. Dann für 3 Tage in Siegen in der Wellerbergkaserne,
zwecks Registrierung. Dort erkämpfte meine Mutter die Zuzugserlaubnis nach
Holzwickede. Mal durften wir 3 Tage in Holzwickede im „Goldenen Adler“ wohnen,
dann mussten wir wieder raus weil Fußballer das Zimmer gebucht hatten, was meine
Schwester sehr erboste. Nach Wochen bekamen wir im Ort ein Zimmer zuwiesen,
unterm Dach, über die Hälfte schräg, ein Fenster. Im Zimmer zwei Betten, ein
Schrank, ein Herd, ein Tisch. Ich weiß, dass ich unterm Tisch geschlafen habe,
auf einem Strohsack. Gefroren haben wir nicht und im Sommer war es unerträglich
heiß. Auf der anderen Straßenseite war ein Schaf angepflockt und das blökte den
ganzen Tag. Unser Wasser mussten wir im Keller holen, das Klo war auf halber
Treppe. Meine Schwester besetzte es gern, das war ihr Zimmer wo sie mal für sich
sein konnte, mein Bruder sagte gehässiger Weise „Scheißhausminister“. Ich machte
auf der Treppe meine Schularbeiten. Nach 3 Jahren bekamen wir 2 Zimmer und da
war in der Küche ein Spülstein. In diesem Zimmer sind wir 3 Kinder erwachsen
geworden und nach und nach ausgezogen.
Wir waren im Westen, wir waren arm, die Heimat verloren, alles musste neu
angeschafft werden. Was wäre besser gewesen, in Almrich zu bleiben oder doch
wegzugehen?
Dorothea wohnt seit 2008 wieder in der Heimat in Naumburg